LUIS CRUZ

FOTOGRAFIE

VERÄUßERLICHUNG

Sechs Bildcollagen mit dem übergeordneten Titel Walking Inside, von Luis Cruz wohl nicht von ungefähr mit dem zweideutigen deutschen Titel "Veräußerlichung" versehen, obwohl es sich ja eigentlich um einen Gang nach innen handelt und vielleicht auch mit "Innenblick" oder "Gang nach Innen" übersetzt werden kann. Jedenfalls handelt es sich um die Veräußerlichung von Verinnerlichtem - von individuellen wie kollektiven Erfahrungen.

Schon bei der Auswahl der Fotos wird diese Auffassung deutlich. So erkennt der Betrachter z.B., dass es sich bei dem Bild Inconsciente collectivo um Aufnahmen aus der chilenischen Wirklichkeit handelt, das Foto Allendes ist identifizierbar, dieses verweist aber zugleich auf den allgemeineren Aspekt der Trauer, der hier gezeigt wird: Trauer um die Ungerechtigkeit, die Gewalt der Mächtigen, die Vergeblichkeit im Kampf der einfachen Leute um größere Gerechtigkeit; gleichzeitig dokumentiert das Foto das Nicht-Vergessen, das Weiterleben der Ideen und Hoffnungen, die sich mit der Person Allendes und der Bewegung der Unidad Populär verbunden haben. Diese Form der Trauer - darauf verweist das Bild durch die Wahl der Ikone und durch den Text - ist international und wird auch überall verstanden. Und dem Betrachter wird klar: Der Fotograf nimmt Partei, zeigt, dies ist Teil meiner eigenen Geschichte, auch ich lebe "mit unseren Toten, damit niemand zurückbleibt".

Er verdeutlicht dies außer durch die Auswahl der Fotos natürlich dann vor allem durch die Anwendung gestalterischer Mittel wie der Komposition - auch hier wird wieder mithilfe raffinierter Montagetechnik, durch Einfügen von Aquarellen, durch Einsatz der Farbe der Betrachter quasi in das Foto hineingezogen, er beginnt, in der Geschichte zu lesen und sie sowohl als individuelle wie auch als kollektive oder besser: als beispielhafte Geschichte zu begreifen.

Das gleiche trifft zu für das Bild "Alptraum", die Verfolgung derer, die für ihre Rechte kämpfen, durch die Staatsgewalt ist in allen Ländern präsent; der Alptraum - hier auch durch die Farbgebung und die aggressiv wirkenden malerischen Eingriffe betont - für den Einzelnen derselbe.

In dem Bild "Die Schleuder und ich" steht im Zentrum das Bild des angriffslustig auf den Fotografen (in diesem Fall den eigenen Vater!) zielenden Jungen eng an seine Mutter geschmiegt, die liebevoll lächelt. Auf den ersten Blick denkt man: nett, ein Erinnerungsfoto - auch der Farbton zitiert ironisch die nostalgischen Gefühle beim Betrachten alter Familienfotos. Durch die Wahl des Schleudermotivs (es ist wahrscheinlich übertrieben, hier an die Geschichte von David und Goliath zu erinnern) wird aber deutlich, dass das Familien- und Kinderleben keineswegs so friedlich und ungetrübt verlief, wie es einem aus den Fotoalben oberflächlich gesehen entgegenstrahlt. Der zwischen Sohn und Mutter immer wieder ausbrechende Konflikt wird im scheinbar harmonisierenden Foto nicht nur verdeckt, sondern als sein Gegenteil dargestellt: als Zuneigung und Harmonie.

Ein weiteres Bild zum Thema Fotografie macht deutlich, dass diese im Leben der Familie schon in den vorhergehenden Generationen die zentrale Rolle spielte: Tradition. Großvater, Vater, Sohn - fast wie ein Altarbild als Trilogie von Selbstaufnahmen - bezeugen die fotografische Tradition, in die der Künstler sich einreiht; das Bild verweist auf die Alltäglichkeit der Arbeit im Labor - so werden die Fotos zum Trocknen an einer Leine an der Spitze aufgehängt, damit das Wasser abtropfen kann, das Motiv bildet hier den oberen Rahmen, der in den Bildraum hineinreicht; als Betrachter kann man gut nachvollziehen, wie jeder, der den Raum betrat, sich bücken musste, um den tropfenden Gebilden auszuweichen. Wörter aus dem Labor werden als Motiv und Ornament integriert; die aus dem Blickwinkel der nützlichen Familienmitglieder als unnütz angesehene Tätigkeit zitiert der Künstler ironisch als Eierkämmen: Ando peinando huevos, "ich bin dabei, Eier zu kämmen"; der alte Konflikt zwischen Ameise und Grille wird mit Humor genommen, typisch chilenischem Humor außerdem.

Das typisch Chilenische - in Identität ausdrücklich thematisiert- beschäftigt Luis Cruz vor allem hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Macht, ethnischer Zugehörigkeit und Lebensweise. Die große Mehrheit der chilenischen Bevölkerung bilden criollos, eine Mischbevölkerung aus den europäischen Einwanderungsländern - hauptsächlich Spanien - und Nachkommen der indigenas, der ursprünglich dort ansässigen indianischen Mapuche. In den oberen Etagen der gesellschaftlichen Hierarchie aber finden sich die für sie typischen Gesichts- und Gestaltmerkmale praktisch gar nicht. Dort aber sitzt die Macht, dort werden die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens definiert und ihre Einhaltung kontrolliert. Wer ist Chilene? Wie hat er zu leben? Wer bestimmt, wie er zu leben hat? In diesem Bild wird durch das einfache Prinzip der Reihung und des Kontrastes (in der Kleidung) - wieder im liebevoll nostalgischen Braun der Familienfotos - auf diese Fragen und Zusammenhänge hingewiesen. Die Collage zeigt den Identitätskonflikt der Criollos, der aus der Zurückdrängung des indigenen Anteils entsteht; auch heutzutage ist, wenn ein Kind geboren wird, nach wie vor die Freude größer, wenn die Haut heller ausfällt, als wenn sie dunkler ist. Das Kind wird mehr Chancen haben.

So gibt es bei diesen auch in technischer Hinsicht perfekten Einheiten unzählige bildnerische Details, die dazu einladen, jede dieser sechs Collagen eingehend zu betrachten, um den dort enthaltenen Botschaften, Anspielungen und Gedanken darüber, wie ein jeder lebt und leben will, wie auch dem Witz und der Ironie auf die Spur zu kommen.

Christa Lütter

Veräußerlichung ist eine Reise in meine persönliche Vergangenheit, deren Konflikte und Brüche ihren Ausdruck in radikalen Bildcollagen finden. In den Bildern dieser Serie habe ich von mir hergestellte Fotos aus der Vergangenheit benutzt, die starke Symbolkraft für prägende Phasen meines Lebens haben und zu Bestandteilen meiner persönlichen Erinnerung geworden sind. Für das Bild "Tradition" habe ich dabei auch auf Fotos aus dem Familienalbum - meines Vaters Guillermo Cruz und meines Großvaters Luis Cruz, beides Kollegen, die mir die Leidenschaft der Fotografie mit den ersten chemikaliendurchtränkten Atemzügen einhauchten -zurückgegriffen.

Die farbliche Gestaltung der Bilder beruht auf selbst hergestellten Aquarellen, deren besondere Strukturen und Tongebungen gezielt ausgewählt wurden und die starren Formen und Farben digitalisierter Bildbearbeitung bewusst durchbrechen.

Luis Cruz